2021 on 33



Happier holidays mit meinen zehn Lieblingsalben des ausgehenden Jahres. Die gleichsam poetische wie gesellschaftskritische Vorrede könnt Ihr Euch diesmal bei Bedarf gern selbst zusammenbauen - etwa aus den Begriffen Gräben, globaler Süden, Insel und Musik. 


Notwist – Vertigo Days

„Aufmachen so weit es geht“, beschreibt Markus Acher die Motivation hinter der, von seiner Band Notwist 2016 gestarteten, Alien Disko und dem Album Vertigo Days, das etwa seit Bestehen des Festivals gereift und 2021 erschienen ist. Entsprechend des Zeitfensters sind damit also keine Pandemie-bedingten Einschränkungen gemeint, sondern eine Reaktion auf grassierenden Nationalismus und Protektionismus. Mit divergenten Herangehensweisen, befördert auch durch eine Unzahl an Gastmusikerinnen aus der ganzen Welt, illustriert die Band aus Weilheim so einmal mehr ihre Bewegungsfähigkeit. Krautrock, Brass-Jazz, japanischer Indie-Pop oder experimenteller Songwritersound, wie der der Argentinierin Juana Molina, finden in Notwists eigensinnigen Songausgestaltungen und Achers unverwechselbarem Gesang ganz selbstverständlich zusammen.



Lost Girls – Menneskekollektivet

Die norwegische Musikerin und Autorin Jenny Hval und der Multi-Instrumentalist Håvard Volden haben 2021 ihr erstes gemeinsames Album als Lost Girls veröffentlicht. Wie schon auf einer ersten EP aus dem Jahr 2018, folgt das Songwriting der beiden keinen klassischen Mustern. Eher wie improvisierte Skizzen kommen die minutenlagen analogen Synthiefahrten, die opulent wallende Electronica und allerlei sich hypnotisch steigernde Drums-Patterns und Gitarrenriffs daher. Jenny Hvals erzählender Gesang ist gegenüber ihren sehr konzeptuellen Soloalben dissoziativer gehalten, setzt aber die gewohnt markanten Pflöcke in den zauberhaft dahinmäandernden Sound des Duos. 


Amyl and the Sniffers - Comfort to Me

Das im September erschienene zweite Album der Australischen Band Amyl and the Sniffers ist ein furioses Punk 'n' Roll Brett, das auf gut 30 Minuten einen Hit an den anderen reiht. Der Sound ist schnörkelloser als der, der dennoch immer wieder durchscheinenden Bezugsgrößen aus den 70ern und wird von der namensgebenden Sängerin und Frontfrau Amy Taylor in ihrer ganz eigenen hyperaktiven Manier zuverlässig zum Überkochen gebracht.


Fehler Kuti – Professional People

Auch auf seinem zweiten Album als Fehler Kuti verrührt der Münchner Musiker und Performancekünstler Julian Warner Gesellschaftspolitisches in einer Melange aus Electronica, Dub und Hiphop. Etwa fragt er sich und uns, wie limitiert ein Diskriminierungs-Diskurs ist, der sich anlässlich aktueller Ereignisse wie in Minneapolis oder Hanau vermeintlich sensibilisiert, aber umso blinder gegenüber alltäglichen Marginalisierungen bleibt. Große Themen, die durch einen virtuos eingezogenen doppelten Boden in Text und Musik ganz leichtfüßig verpackt werden. Verschiedene Perspektiven und Brüche werden unmittelbar vertont, Botschaften verlieren sich in Mantren, ohne dass der Sound an Pop-Appeal verliert. 


Tirzah - Colourgrade

Seit ihren ersten Singles aus dem Jahr 2013 hebt Tirzah das, was im allgemeinen als Contemporary R&B bezeichnet wird, mit jedem Release auf eine höhere Stufe. Das gilt auch für ihr 2021 tröpfchenweise erschienenes zweites Album Colourgrade. Noise-Anteile und fast deplatziert wirkende Gitarren erweitern die extrem entschlackten Produktionen um ein berauschendes Element und exponieren das Eigenständige im Sound der Londonerin, das vielleicht am Ehesten als stetes Nebeneinander von Kälte und Wärme, von Losgelöstheit und Erdung beschrieben werden kann.


Space Afrika - honest labour

Space Afrika aus Manchester haben ihr musikalisches Fundament aus Dub-Techno in den letzten Jahren nach und nach aufgebrochen und schöpfen für ihr neues Album aus der ganzen Breite britischer Elektro-Spielarten. Reich an Referenzen, Fieldrecordings und Interviewsequenzen erinnert hones labour unweigerlich auch an Darkstar, auch wenn Space Afrika weiterhin deutlich sperriger und dystopischer um die Ecke rumpeln.  


Maulgruppe - Hitsignale

Jens Rachut hat seinen Superhelden-Status 2021 weiter ausgebaut. Unter anderem mit je einem neuen Album seiner jüngsten Kapellen Alte Sau und Maulgruppe. Beides auf ihre Art grandiose Brecher, aber die größeren Hitsignale sendet die Maulgruppe, der es gelingt, ihr Gemisch aus Punk, Noise und Rachut noch ein bisschen organischer zu gestalten als auf dem Erstling von 2019. Der neu hinzugenommene und von Dackelbluts Wieland eingespielte Bass gibt dem Sound mehr Tiefe und Rachut erzählt mit unverkennbarem Druck seine unverkennbaren Geschichten. 


Anika - change

Die Musikerin und Journalistin Annika Henderson kehrte 2021 nach über 10 Jahren Pause mit ihrem Soloprojekt Anika zurück. In der Zwischenzeit hatte sich die Wahlberlinerin etwa ihrer Band Exploded View gewidmet, ein neues Solo-Album sei aber schon lange geplant gewesen, verrät sie. Eingespielt hat sie die neun Songs schließlich erst im vergangenen Jahr und die Texte direkt während des straffen Aufnahmeprozesses geschrieben. "Ein Erbrechen von Emotionen und Ängsten, von Empowerment und Ohnmacht", beschreibt sie diese selbst und packt sie in spröde fesselnden Experimental Pop und den ein oder anderen griffigen Refrain.


Perila – How much time it is between you and me?

Auf ihrem vierten Soloalbum perfektioniert Alexandra Zakharenko, aka Perila, ihren Sound, der ohne große Ausbrüche eine fast schon unheimliche und im Ambient selten gehörte Intensität erzeugt. Es scheint als öffneten sich immer wieder neue Fenster in einen Garten, in dem das Laub jedes mal ein wenig anders raschelt. Perila verwendet gern Fieldrecordings und natürliche Ausgangsmaterialien, die sie nur ganz zart digital verfremdet. Unreine Texturen, die ein Spiel aus Nähe und Distanz, aus Intimität und Seelenlosigkeit illustrieren, als wolle sie uns zeigen, dass uns oftmals nur ein verschmierter Monitor von der Welt da draußen trennt.


International Music - Ententraum

Das zweite Album der wunderbaren International Music aus Essen ist ein 17 Lieder umfassendes Epos, auf dem die Band ihrer Fantasie in Wort und Ton freien Lauf lässt. Alles ergibt sofort Sinn, wenn der harmonische Chorgesang einsetzt, ohne sich zu sehr im Pathos oder anderen Deutsch-Rock-Peinlichkeiten zu verlieren. Unpeinlichkeit ist vielleicht ohnehin eines der wichtigsten Attribute ihrer oft witzigen Texte und der musikalisch hochversierten Zitation aller möglichen Stile von Schlager bis Post-Punk und von Folk bis Tropicalismo.