In aller Regel ist das Beste am Jahr ja die Rückschau auf meine Lieblingsalben. Diesmal hab ich mich damit besonders beeilt:
Cindy Lee - Diamond Jubilee
Je routinierter wir hinnehmen, dass jede Weggabelung weiter in den Abgrund führt und jede Katastrophe nur die Folge der vorherigen ist, desto eindrücklicher ist es, wenn das Unwahrscheinliche auch mal etwas Großartiges ist. So geschehen im März des Jahres, als uns der kanadische Musiker Patrick Flegel alias Cindy Lee ein zweistündiges YouTube-Video und einen skizzenhaften Download-Link auf einer GeoCities-Website präsentierte. Eine Veröffentlichung, die sich dem Marketing- und Vertriebsparadigma des Streaming-Zeitalters fast vollständig entzog und auf die sich dennoch die ganze Welt einigen konnte. Die "Feelgood-Indie-Rock-Story des Jahres“, wie die Musikpresse titelte, die damit auch einen kleinen Triumph über die eigene Irrelevanz feierte. Im Sound von Cindy Lee hören wir die Crystals oder die Beach Boys, Marvin Gaye oder Velvet-Underground. Ein Album, wie eine Reise in eine andere Zeit. Im Gepäck nur die Erinnerung an eine verlorene Liebe, die wir gelassen ertragen, weil wir einen stillen Pakt mit der Vergänglichkeit geschlossen haben.
Moin - You Never End
Die Schlagzeugerin Valentina Magaletti war auch in diesem Jahr wieder äußerst umtriebig. Neben unzähligen Releases, etwa mit Nidia, Shakleton oder Zongamin, gründete sie unter anderem das All-Female Label Permanent Draft und veröffentlichte dort auch gleich einen Band über Frauen, trans- und nicht-binäre Künstler:innen in der experimentellen Musik. Mit Moin, einem ihrer zahlreichen Bandprojekte, hat sie 2024 das dritte Studioalbum vorgelegt. "You Never End" ist eine Reflexion über Isolation und Verbundenheit. Schwebende Gitarren und hypnotische Rhythmen brennen sich subtil aber kraftvoll in den Gehörgang ein – kühl, abstrakt und doch voll roher Emotionalität.
great area - light decline
Auf Lolinas Relaxin Records sind in diesem Jahr einige großartige Alben erschienen. Eines davon ist das Debüt von great area, einer Künstlerin oder einem Projekt, über das, außer dem Standort London eigentlich nichts bekannt ist. Lolina selbst ist zumindest stimmlich auf zwei der Songs zu hören und zeichnet auch für die Produktion verantwortlich. Entsprechend reduziert geht es zu auf "light decline" - lockere Samples, dissoziierte Synthies und sparsame Drum-Breaks ergeben eine eigenwillige Dynamik, der man sich keinesfalls entziehen will.
Stress Positions - Harsh Reality
Mit ihrem Debütalbum "Harsh Reality" liefern Stress Positions aus Chicago eine kompromisslose Hardcore-Platte ab, die uns aus dem Stand überrollt. Sängerin Stephanie Brooks schreit sich mit Schaum vor dem Mund durch Themen wie Polizeigewalt, Armut und Kapitalismuskritik. Muikalisch eine rastlose Mischung aus D-Beat, Hardcore und Power-Violence, die immer wieder von plötzlichen Rhythmuswechseln durchschnitten wird. Knackige 18 Minuten, die einen extrem bleibenden Eindruck hinterlassen.
Naemi - Dust Devil
Naemi, die wir bislang unter dem Namen Exael kannten, zeigt auf ihrem Album "Dust Devil", was im Ambient gerade alles möglich ist. Sound, der an den Rändern ordentlich ausfranst, mal Richtung Shoegaze, mal Richtung Trip Hop und so die Grenzen des Genres wieder und wieder neu auslotet. Dazu tragen natürlich auch die zahlreichen Kollaborationen bei; auf fast jedem der 14 Tracks findet sich die Künstlerin in anderer Begleitung wieder. Gleichsam eine Reise durch den Berliner Underground - und ein poetischer, fast unwirklicher Raum, durch den uns Naemi schweben lässt.
Nuno Beats - Sai do Coração
Am portugiesischen Label Príncipe Disco führte auch in diesem Jahr kein Weg vorbei. Aus den vielen herausragenden Veröffentlichungen fiel die Wahl für diese Liste auf "Sai do Coração" von Nuno Beats, das exemplarisch für die Authentizität und kreative Freiheit des Labels steht. Mit einer Mischung aus perkussiven, langsamen Grooves und traditionellen Elementen versammelt das Album keinen klassischen DJ-Sound und zieht dennoch unnachgiebig auf den Dancefloor.
Klapper - High for No Reason
Die Berliner Band Klapper spielt eine Mischung aus Postpunk und Minimal Wave und hat 2024 ihr Debütalbum "High For No Reason" veröffentlicht. Mit Synthesizer, Gitarre, Bass, Drumcomputer, Schlagzeug und ein paar Gimmicks entsteht ein melancholischer, unterkühlter und immer treibender Sound, der wohlig zeitlose Nostalgie ausstrahlt.
Actress - Дарен Дж Каннінгем
Kurz nach dem Release seines wunderbaren zehnten Studioalbums "Statik" hat Actress einen Mix für Resident Advisor produziert. Darauf fand sich überraschenderweise ausschließlich exklusives Material, das Actress aka Darren Cunningham gegen Ende des Jahres folgerichtig auch auf Platte bannte. Den Zugang zum repetitiv dahinplätschernden Sound nennt er selbst "Braque", eine Collage aus flächiger Electronica, Field Recordings, Geräuschen und flüchtigem Gesang. Prozessual, beruhigend und aufwühlend zugleich. Actress' Sound ist ohnehin immer ein Statement, hier gilt das auch für den Albumtitel - sein bürgerlicher Name in ukrainisch-kyrillischer Schrift.
Still House Plants - If I Don’t Make It, I Love U
Still House Plants aus London und Glasgow haben 2024 ihr drittes Album "If I Don’t Make It, I Love U" veröffentlicht. In analogen Arrangements verbinden sie darauf Industrial, Post-Rock und R&B, wobei der Sound fast ausschließlich von der beeindruckenden Stimme von Jess Hickie-Kallenbach getragen wird. Ihre tiefe, hypnotische Kraft verleiht den Songs eine intime und fast greifbare Präsenz.
Sega Bodega - Dennis
Der Produzent und Songwriter Sega Bogeda hat in den letzten Jahren eine Single nach der anderen veröffentlicht. Er arbeitete mit Björk, Rosalía oder Caroline Polachek zusammen und veröffentlichte auf seinem Label Nuxxe unter anderem Shygirl und Coucou Chloe. 2024 war es nun wieder Zeit für ein Soloalbum: Auf "Dennis" verbindet er experimentelle elektronische Klänge mit folkigen und poppigen Melodien. So entsteht ein dicht gewebtes Album, das leichtfüßig auf der Schwelle zum barocken Prunk balanciert, ohne je zu kippen.