2022 on 33


Moralin und Zeitwenden sind zwei der Kackspuren, die sich eindrücklich durchs Jahr 2022 gezogen haben. In der Musik scheißt der Teufel immer weiter auf den größten Haufen, wie etwa Platinum-Tickets auf der einen, und haufenweise Konzertabsagen auf der andren Seite zeigen. Selbes gilt für anhaltende Monokulturisierung oder die Nachricht von Taylor Swifts Top-Ten Okkupierung. Garantiert abwechslungsreicher wird’s nun mit meinen zehn Lieblingsalben des ausgehenden Jahres: 


Sam Prekop, John McEntire - Sons Of
Bei Songlängen jenseits der 20 Minuten kann man nicht davon sprechen, dass Sam Prekop und John McEntire auf ihrem ersten gemeinsamen Album "Sons Of" dem Diktat der Algorithmen folgen würden. Generell gehen die beiden im Vergleich zu ihrer Indie Rock Band The Sea & Cake neue Wege und erkunden die Freiräume zwischen schnurgeraden elektronischen Beats. In diese schichten sie Synthesizer-Flächen und synkopische Rhythmen zu einem fesselnd-ausuferndem Fiepen und Rauschen. 


Malatesta - Unter Tage
Malatesta aus München spielen Crust-Punk und haben 2022 ihren ersten Langspieler "Unter Tage“ vorgelegt. Trotz mittenlastiger, hie und da auch melodiöser Gitarren ein eher düstereres Album mit deutschen Texten, die in einer unglaublichen stimmlichen Range vorgetragen werden. Ein Anschreien gegen Herrschaftsstrukturen im wörtlichsten Sinne. Neben Gewalt, Politik und Revisionismus wird vor allem patriarchale Ausgrenzung thematisiert und so gibt Malatesta auch in der Punk-Szene weithin marginalisierten Gruppen eine vehemente, wütende Stimme. 


La Femme - Teatro Lucido
La Femme aus Paris haben sich für ihr viertes Album von Aufenthalten in Mexiko inspirieren lassen: "Teatro Lucido" ist komplett auf Spanisch eingesungen und bedient sie sich Instrumenten und Rhythmen, wie wir sie aus moderner und traditioneller lateinamerikanischer Musik kennen. Ganz besonders wird diese Reise, weil La Femme ihre wunderbare Mischung aus 60s-Beat, Psychedelic- und Indie Rock stets im Handgepäck haben und uns trotz benebelnder Hitze unbeirrt auf den Dancefloor locken.


Cate Le Bon - Pompeji
Cate Le Bon zeigt auf ihrem sechsten Album "Pompeji" nachdrücklich welch grandiose Songwriterin sie ist. Im steten musikalischen und erzählerischen Zwiegespräch beschreibt die Waliserin blinde Flecken in Sinnsuche, Spiritualität und Ikonographie, um sie immer wieder mit zeitlos-weltlichen Melodien zuzudecken. So zeigen die eigenwillig instrumentierten Songs, wie wohltuend es ist, Zweideutigkeit nicht immer lösen zu wollen, sondern sie erschöpft zu umarmen.


Inga - Took The Wrong Way Home
Auch aus Ingas zweitem Album „Took The Wrong Way Home“, das im Oktober bei der Münchner Indie Institution Trikont erschienen ist, tropfen wundervolle Melodien. Wohldosiert aber mit Loop und Schleife. Inga erzählt von Krise und von kriselndem Zeitgeist, von der Aussicht auf mildere Gefilde und von ihrem Camper. Der Sound ist etwas elektronsicher und dichter als auf ihrem Erstling von 2020 und wird mal von einer Hang getragen, mal von Piano- oder Synthielines. Das wichtigste Instrument aber bleibt Ingas Stimme. In ihr findet sie die Töne, die erst fehlen und dann alles zum Leuchten bringen.  


Elena Setién - Unfamiliar Minds
Die baskische Multiinstrumentalistin Elena Setién hat im Januar ihr zweites Album "Unfamiliar Minds" veröffentlicht. Darauf finden sich zehn ätherische Arrangements zwischen Folk-, Klavier- und Orgelklängen, dezenter Electronica und einer abwechslungsreich inszenierten Stimme. Eine Welt intimer und fragiler Schönheit in der Setién im Rekurs auf die Poetin 
Emily Dickinson über Einsamkeit und Konfusion reflektiert.


Ralph Heidel –  Modern Life
Ob KIZ, Stella Sommer oder Carlos Cipa, ob Volksbühne Berlin, Berliner Ensemble oder Volkstheater München: Ralph Heidel ist nach Abschluss seines Saxophon-Studiums schnell einer der gefragtesten Gastmusiker und Arrangeure des Landes geworden. Zudem hat der 28-jährige in diesem Jahr sein zweites Soloalbum „Modern Life“ vorgelegt. Mit elektronischen Schraffuren, minutiösen Klavier- und Streicherarrangements schafft er darauf eine Klangwelt zwischen Elektro-Pop, Jazz und zeitgenössischer Klassik
 in der präzise Melodien immer wieder diffuse Empfindungen zum Leben erwecken.


Kae Tempest - The Line Is A Curve
Auch auf ihrem fünften Album "The Line Is A Curve" verbindet Kae Tempest auf unnachahmliche Weise Rap und Lyrik und hat den Spoken Words Anteil dennoch deutlich zurückgefahren. Dafür strotzt das Album vor formbewussten musikalischen Texturen zwischen Synthie-Pop, Trip-Hop, Ambient und Electronica. Neben prägnanten Beats und Klavierloops geht aber natürlich auch Kae's sprachlicher Vortrag weiter unter die Haut, der erstmals durch zahlreiche Gäste wie Kevin Abstract, Grian Chatten oder Lianne La Havas ergänzt und exponiert wird.


Aldous Harding -  warm chris
Kaum zu glauben, dass "warm chris" erst das vierte Album der Songwriterin 
Aldous Harding ist, denn die 
Neuseeländerin bewegt sich mit schier grenzenloser Selbstverständlichkeit in ihrer eigenen musikalischen Umlaufbahn. Dort nimmt sie sich alle Zeit um den ein oder anderen Schlenker mehr zu machen und oszilliert auch innerhalb der Songs zwischen Soul-Pop, Folk und virtuos-schrägem Lo-Fi bis alles irgendwann in subtilen Melodien zusammenfindet.



700 Bliss - Nothing to Declare
Auch die Clubmusik verhandelt zu Letzt wieder dezidiert Politisches. 2022 stehen dafür etwa Loraine James, Aya oder Charlotte Adigyrys und Bolis Pupul. Da passt es ganz hervorragend, dass auch 700 Bliss, aka Moor Mother und DJ Haram, in diesem Jahr ihr Debütalbum veröffentlicht haben. "Nothing To Declare" ist nicht nur eine vielschichtige Neuinterpretation von Hip-Hop und verdrehten Club-Sounds, sondern vor allem ein entschlossener Angriff auf patriarchale Strukturen. Ein lautes, aufregendes und konfrontatives Album, das bei jedem Durchlauf neue Ebenen offenlegt.