Im Meer aus Scheiße des Jahres 2020 war Musik einmal mehr der sichere Hafen. Damit sind freilich nicht die vielen leckgeschlagenen Versuche gemeint, Mut in der Krise zu machen oder sonst wie auf der Solidaritäts-Welle mitzuschwimmen. Als kleine Navigationshilfe kommen hier meine zehn Lieblings-Alben des Jahres:
Pisse - LP
Jay Electronica - A written Testimony
Ein paar vielbeachtete Releases auf einem sozialen Netzwerk namens Myspace machten Jay Electronica gegen Ende der 00er Jahre zu einem der begehrtesten Rapper im US-Hip-Hop. Seine sprachgewaltigen und feingeistigen Flows hatten unter anderem die Superstars und Label-Bosse Puff Daddy und Jay-Z auf den Plan gerufen. Letzterer machte schließlich das Rennen und signte Jay im Jahr 2010. Es folgten Mixtapes und Features aber auf ein schon damals angekündigte Solo-Album mussten wir lange warten. Im März diesen Jahres meldete Jay-Z schließlich, die beiden hätten in den vorangegangenen 40 Tagen Jay Electronicas Debüt „A written Testimony“ aufgenommen, dass das schier endlos erzählte Narrativ vom mysteriösen Rap-Wunder endlich einlösen sollte. Unter seine grandiosen Flows legte Jay auch selbst die meisten Beats und gab dem Album einen blechern-leiernden DIY Anstrich. Grandios oldschooliger Hip-Hop mit reichlich Samples und Black History-Verweisen, die, wie die fatale Polizeigewalt wenig später zeigen sollte, auch 2020 noch traurig aktuell waren.
Inga - Tears and Teeth
Die Münchner Kunststudentin Inga hat im Juni 2020 ihr Debüt „Tears and Teeth“ bei der Indie-Institution Trikont veröffentlicht. Ihr offizielles Debüt muss man wohl sagen, denn die meisten Songs hatte sie zuvor schon mit einer Auflage von 20 Stück auf Vinyl pressen lassen und auf bandcamp gestellt. Das liest sich nach DIY im besten Wortsinne und so klingt es auch: Mit Gitarre, Sequenzer und Laptop bastelt Inga wunderbar luftige Pop-Collagen, irgendwo zwischen Chanson und Singer-Songwriter-Sound. Eingängige, auf Deutsch, Englisch und Französisch vorgetragene Textschnipsel halten die vielen Versatzstücke und Loops zauberhaft zusammen. Ein Album wie ein Bällebad, in das wir unbesorgt hineinspringen und aus dem wir breit grinsend wieder auftauchen.
Coriky – s.t.
In den 80ern und 90ern prägten Amy Farina und ihr Ehemann Ian MacKaye mit Bands wie Minor Threat und Fugazi (Ian) oder den Warmers (Amy) eine Spielart des Hardcore und Punk, der für immer mit der amerikanischen Hauptstadt Washington DC und dem dort ansässigen Dischord Label verbunden bleiben wird. Kurz nach der Jahrtausendwende begannen die beiden als Evens erstmals auch gemeinsame Musik zu veröffentlichen. Amy spielte Schlagzeug, Ian Gitarre und beide sangen. Mit kantigem Akustik-Sound setzten sie sich wohltuend von den damals weitverbreiteten Songwriter-Versuchen anderer Protagnistinnen der Punk- und Hardcoreszene ab. Nach der Hinzunahme des ehemaligen Fugazi Bassisten Joe Lally ist daraus nun die Band Coriky geworden. Der Sound der drei klingt wärmer und knackiger als bei den Evens und profitiert auch von den Dynamiken, die durch den wechselnden Gesang entstehen. So umfasst das selbstbetitelte Debüt eine Hymne nach der nächsten, ohne den sperrig markanten Washington DC Sound zu verleugnen.
Sophie Hunger – Halluzinationen
Ihr siebtes Album „Halluzinationen“ hat Sängerin und Multiinstrumentalistin Sophie Hunger in den berühmten Abbey Road Studios in London aufgenommen. Und zwar alle Songs in nur einem Take. Das Gegenteil von dem was sie bisher gemacht habe, verrät die in Berlin lebende Schweizerin und tatsächlich kann man diese Unmittelbarkeit auch hören: Roh und energetisch klingt ihr Songwriter-Pop, was auch daran liegen mag, dass die weiterhin wichtige Elektronik nicht mehr so augenscheinlich in den Vordergrund drängt. Präsentester Begleiter auf „Halluzinationen“ ist das Klavier, das mal für sich selbst steht und mal von repetitiven Drumbeats und wabernden Synthies umgarnt wird. Fließende Arrangements die sich auch in den ständig wechselnden Sprachen und Bedeutungsebenen wiederfinden.
Caleb Landry Jones – The Mother Stone
Caleb Landry Jones kennen wir aus Filmen wie „No Country for old Men“ oder „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“. Neben der recht erfolgreichen Karriere als Schauspieler bleibt ihm scheinbar aber noch sehr viel Zeit, um sich seiner zweiten Leidenschaft, der Musik, zu widmen. Für sein 2020 erschienenes Debüt „The Mother Stone“ konnte er nach eigenen Angaben aus einem Fundus von mehr als 700 selbstgeschriebenen Songs schöpfen. Auf das Album geschafft haben es letztlich 15, die uns mit unglaublicher Opulenz und Detailverliebtheit in eine selten gehörte Traumhaftigkeit entführen. Songs, zwischen phantasievollem Glam- und barockem Indie-Rock, in denen sich Einflüsse und Andeutungen brechen wie in einem Kaleidoskop.
The Gaslamp Killer – Hearth Math
Ende der 90er machte der Turntableist William Bensussen mit einigen Gigs in San Diegos Gaslamp District auf sich aufmerksam. Nach einem Umzug nach Los Angeles rief er gemeinsam mit Flying Lotus die, heute legendäre, Low End Theory Clubreihe und das, heute ebenso legendäre, Label Brainfeeder ins Leben. Bald darauf veröffentlichte unter seinem Alias The Gaslamp Killer gemeinsam mit Gonjasufi das wegweisende Album „A Sufi And A Killer“ bei Warp Records und zeigte bei zahlreichen Produktionen aus Los Angeles sein feines Händchen als Producer. Einige Jahre später zerlegte er den Boiler Room London mit einem der besten Sets, das dies selstsame Partyreihe je hervorgebracht hat. Reiche Erfahrungen, die 2020 auf seinem erst dritten Solo-Album „Hearth Math“ zusammenbringt und uns mit psychedelisch-jazzigem Instrumental-Hip-Hop ganz weit in den Orbit schießt.
Molchat Doma - Monument
Molchat Doma aus Minsk haben sich in den letzten beiden Jahren vom YouTube-Phänomen zur weltweit beachteten Neo-New-Wave Sensation gemausert. Für ihr drittes Album „Monument“ haben sie deshalb auch kaum etwas an ihrer Grundrezeptur aus Post-Punk, Synhtie-Pop, unterkühlter 80s Attitüde und den charakteristischen belarussischen Vocals geändert. Kräftig draufgepackt haben die drei dafür bei der Zahl an Drumcomputern und Synthies in ihrem analogen Setup. Trotz dieses erweiterten Arsenals bleibt der Sound der „Schweigenden Häuser“, wie der Bandname auf Deutsch heißt, reduziert und klirrend klar. Die Songs wirken ausgefeilter und lebendiger als bisher und durchbrechen den Nebel der Trostlosigkeit immer wieder mit kurz aufflackernder hoffnungsvoller Romantik.
Tricky – Fall to Pieces
Ein Jahr nach dem Selbstmord seiner Tochter Mazy wirft Tricky auf seinem 14ten Album „Fall to Pieces“ dunkle Schlaglichter auf sein Seelenleben. Trauer, Wut und Selbstzweifel ziehen sich durch das Album und werden doch ab und an von unwirklich euphorischen Momente unterbrochen. Viele der elf Songs enden abrupt oder verhallen im Nichts und illustrieren so den andauernden Prozess des Trauerns und Verarbeitens. Repetitive Vocals bilden das Fundament für entschlackte Bässe, poröse Drums und gepickte Gitarren. Wie so oft werden Trickys Lyrics überwiegend von weiblichen Stimmen vorgetragen. Er selbst setzt nur selten mit ein und reißt uns im Wechselgesang mit Marta Złakowska oder Oh Land immer weiter in die Tiefe. Alles zerfasert und zersplittert und wird in den dunkelsten Ecken doch in schaurig-schöne Melodien zusammengeführt.
Actress – Karma & Desire
Seit mehr als zehn Jahren zerstückelt der Londoner Produzent Darren Cunningham, aka Actress, schwere Beats und Drones und setzt sie in einer ausgefeilten Klangwelt zwischen Industrial, Dub und Techno neu zusammen. Auf seinem siebten Studio-Album „Karma & Desire“ gelingt ihm dies zugänglicher den je: Abstrakte Electronica, verwaschene Ambient-Landschaften und catchy Clubsounds werden von organischen Klavierloops begleitet, die sich wie ein roter Faden durch das Album ziehen. Beats und Melodien flackern immer wieder gespenstisch auf um alsgleich wieder zu verhallen. Ein Album, das genauso nach Untergang, wie nach Neubeginn klingt und so zynisch gut in dieses Jahr passt – großartig sein wird es aber auch noch weit darüber hinaus.