Live-Stream-Line


Ein seltsamer Konzert-Sommer geht zu Ende und viele von uns werden wohl erst im Herbst und Winter realisieren, wie okay bestuhlte und zwangsläufig spärlich gefüllte Konzerte im Freien doch eigentlich waren. In den kommenden Monaten bleibt bestenfalls noch die gänzlich absurde Variante des Autokinos und natürlich der Livestream, der in den letzten Monaten eine rasante Entwicklung genommen hat.

Anfang April saß die wunderbare Singer-Songwriterin Phoebe Bridgers im Pyjama und mit einer Gitarre auf dem Schoß in ihrer Wohnung in Los Angeles und sagte in die Kamera ihres Telefons: "I've never done this before. How are guys? Is this, like, a normal angle? Is this good? Can you hear me?” So wie sie machten es Unmengen an Pop-Stars und fluteten unter Hashtags wie #TogetheratHome mit wackeligen Livestreams das Internet: Elton John saß mit Flügel im Vorgarten, Diplo auf seinem schlecht beleuchteten Wohnzimmerboden, Chris Martin mit jeder Menge Herz-Emojis im Studio und Keith Urban tanzte mit seiner Frau Nicole Kidman aus dem Rahmen. All dies ließ sich unter, ab und an sogar sympathischem, Marketing und echter Solidaritätsromantik subsumieren. Zum „Überleben“, was im Musik-Business, wie überall sonst im Kapitalismus, eigentlich „Wachstum“ meint, musste da schon mehr kommen. Also wurden ganze Konzerte für ein zahlendes Publikum veranstaltet, das nun eben nicht vor der Bühne stand, sondern vor den Bildschirmen saß. Von den Online-Bühnen auf denen diese Events stattfinden, hatten die meisten von uns zuvor noch nie etwas gehört. Schnell sind sie aber so groß geworden, dass Versuche von Künstlerinnen, wie Erykah Badu, eigene Plattformen zu etablieren, gegen die neue Marktmacht nur wenig Chancen hatten. Neben alten und neuen Plattformen, bekannten Offline-Venues und Medienhäusern sprangen heuschreckengleich auch schnell große Einzelhandelsketten auf den Livestream-Zug auf. Und für wen die Events trotz immer bombastischerer Bühnen- und Lightshows immer noch kein richtiges Live-Erlebnis waren, gab und gibt es Konzerte und sogar ganze Festivals in Videospielen wie Minecraft oder Fortnite. Damit können ganz nebenbei auch noch ein paar Gamerinnen und Gamer abgeholt oder – andersrum – Musikfans in die Games geholt werden. 

Besonders genau muss man nicht hinschauen, um zu bemerken, dass dieses vermeintlich reichhaltige Angebot keinerlei Vielfalt abbildet. Vielmehr wird, ganz wie im echten Sozialen-Netzwerk-Leben, alles auf ein Level gezogen, das für Plattformen und Labels funktioniert. Weiter begünstigt wird dieses Streamlining durch die Tatsache, dass Monopole in der Digitalwelt noch verrücktere Ausmaße annehmen als in anderen Wirtschaftszweigen. So scheint es im Moment, als sei der Livestream ein weiterer Sargnagel für die, die in der Musikbranche mit am meisten unter der Corona-Pandemie leiden: Kleinere Venues und kleinere Bookingagenturen, von denen es, so Prognosen, schon im nächsten Jahr ein Drittel nicht mehr geben wird. Die, die übrigbleiben werden fortan wohl noch größere Schwierigkeiten haben, internationale Künstlerinnen und Künstler anzulocken oder gar innovative, kleinere Formate zu etablieren. Von der Politik sind hier wohl kaum Lösungen zu erwarten und deshalb müssen wir die Clubs, Veranstalterinnen und Veranstalter unseres Vertrauens weiter unterstützen wo es geht – auch wenn es in den meisten Fällen vielleicht nicht mehr zu sein scheint als Tropfen auf den heißen Stein.