Holly Herndon: Mensch-Maschine-Harmonie(n)



Holly Herndon hat ihr neues Album „PROTO“ gemeinsam mit einer Künstlichen Intelligenz komponiert. Am 12. Juni stellt sie es beim Festival „Politik der Algorithmen“ an den Münchner Kammerspielen vor. 

Künstliche Intelligenz (KI) hat viele Bereiche unserer Gesellschaft grundlegend transformiert: Sie ermöglicht Frühdiagnosen verschiedenster Krankheiten, reguliert unseren Energieverbrauch und steuert unser Konsumverhalten. Sie optimiert industrielle Prozesse, sie malt oder macht Filme. Ihre Entwicklung schreitet rasant voran, ohne dass es für die impliziten ethischen Fragen politische oder gesellschaftliche Antworten gäbe. Dies ist sicher einer der Gründe, warum der Diskurs über „die letzte Erfindung des Menschen“, wie KI häufig tituliert wird, von dystopischen Erzählungen beherrscht wird. Ein soziales System, das sich diesem Diskurs und dem Einsatz der Technologie weitestgehend entzieht, ist das deutsche Stadttheater. Schon Inszenierungen, in denen die Schauspieler*innen durch überbordende Bühnentechnik, durch Masken oder verzerrtes Play-Back entmenschlicht werden, rufen hier ausgiebige Diskussionen hervor. Nicht wenige scheinen das Theater als eine der letzten Bastionen genuin analoger Kultur zu begreifen. Umso erfreulicher, dass die Münchner Kammerspiele diesem Themenkomplex nun mit dem Festival „Politik der Algorithmen – Kunst, Leben, Künstliche Intelligenz“ vom 11.-16. Juni Raum geben.

"Tank" von und mit Doris Uhlich. Bild: Axel Lambrette
Eröffnet wird die multidisziplinäre Festivalwoche mit einer Keynote des Soziologen und Systemtheoretikers Dirk Baecker. Es folgen Vorträge, Diskussionen und natürlich künstlerische Arbeiten. Etwa eine Installation der Regisseurin Susanne Kennedy oder eine Performance der Choreographin Doris Uhlich. Die Musikerin und Wissenschaftlerin Holly Herndon ist mit einer Konzertperformance und einer Podiumsdiskussion gleich zweimal im Festivalprogramm vertreten.
Herndon beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Gesellschaft. Diese untersucht sie in ihrer Doktorarbeit an der Stanford University und in ihrer experimentellen elektronischen Pop-Musik. Dabei findet die Auseinandersetzung mit der digitalen Transformation stets auch auf einer anderen Ebene statt, als auf der rein musikalischen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Medienkünstler Mat Dryhurst, hat sie etwa die Social-Media-Seiten ihrer Konzertgäste ausgelesen und die privaten Inhalte in ihre Performance eingebaut. Die Reaktionen der Zuschauer*innen waren trotz dieses Eingriffs in die Privatsphäre nicht negativ, vielmehr berichteten viele von einem selten gewordenen Gemeinschaftsgefühl, von einer Nähe, die sie bei anderen Konzerten so nicht gespürt hätten. Ein Beispiel das zeigt, wie Herndon versucht, sich und ihr Publikum vom reinen schwarz-weiß des Kulturkampfes Technophilie gegen Technophobie zu lösen. Für ihr drittes Album „PROTO“ ging sie dabei nun einen großen Schritt weiter: Zusammen mit ihrem Mann und dem Programmierer Jules LaPlace entwickelte sie die Künstliche Intelligenz Spawn und trainierte sie über Jahre hinweg. Sie kochten, sangen und diskutierten miteinander und gaben der KI auf eigens inszenierten „training ceremonies“ mit der versammelten Berliner Musik-Szene Anschauungsunterricht in menschlichem Verhalten. So lernte Spawn unbekannte Geräusche zu identifizieren und neu zu interpretieren, bis sie schließlich bei den Proben mit Herndons Chor eigene musikalische Impulse einbrachte. Herndon nutzte die KI also nicht zur Produktion von automatisierter Musik, sondern betrachtete sie als gleichberechtigten Teil ihres Ensembles, das sie Jahre zuvor gegründet hatte um zu sehen, welchen Einfluss kollektive Prozesse auf ihre Musik haben. Je länger sie gemeinsam probten, desto mehr erschien ihr der Chor wie ein Wesen, ein Ganzes, das sich aus einzelnen Individuen zusammensetzte. Dass sie diese Vergemeinschaftung nun auch mit einer KI erzeugen konnte, ist wohl eine der erstaunlichsten und wegweisendsten Erkenntnisse dieses Experiments. Das musikalische Resultat der Zusammenarbeit ist ebenso bezaubernd. Die Bandbreite auf „PROTO“ reicht von holprigen Breakbeats und barockem Synthie-Pop bis zu folkloristischen Chorgesangsformen, ohne dass es den komplexen Songs an eingängigen Pop-Momenten fehlen würde. 


Klug und radikal verhandelt Herndon so eine der dringlichsten Fragen unserer Zeit: Welche Macht gestehen wir KI zu und wie programmieren wir sie? Herndons visionärer ästhetischer Entwurf, den sie am 12. Juni an den Münchner Kammerspielen vorstellen wird, gibt darauf freilich keine Antwort, aber er zeigt, dass der allgegenwärtige Narrativ von einer Technologie, die den Menschen unterwirft, auch anders erzählt werden kann. In der Dramaturgie nennt man solch zeitgemäße Adaptionen Überschreibungen und Stadttheater sind die Orte, an denen sie gespielt werden.